Der Dazio Grande, Tor zum Süden

Südlich das Gotthardpasses liegt die Leventina, ein Transittal auf der Verkehrsachse Basel – Chiasso. Wer einst nach Italien reiste, kam am Dazio Grande vorbei. Der Grosse Urner Zoll war bis zur Gründung des Kantons Tessin die bedeutendste Zollstelle südlich des Gotthards. Forum Z. hat diese historische Stätte besucht.

28.09.2023, von Roman Dörr, Zollexperte, LE Zoll Basel Nord

Im Jahr 1230 eröffnete Uri die Gotthardpassstrasse als neue Handelsroute von Nord nach Süd. Dadurch wurden auch die guten Beziehungen zur Leventina vertieft. 1403 kamen die Urner und Obwaldner auf Bitten der dortigen Bevölkerung ins Tal, um es gegen Übergriffe der Mailänder schützen. Uri baute nun seine wirtschaftliche Stellung südlich des Gotthards aus. Damit die Säumer fortan nicht mehr über die Bündner und Walliser Pässe auswichen, wurde in den Bau von Susten und den Unterhalt der Saumwege investiert. Nun wollten sich Luzern und die Urkantone den Transitverkehr und Einnahmen daraus sichern: Sie garantierten den Kaufleuten von Mailand und Como 1415 per Vertrag gefahrenloses Geleit und Schutz von Leib und Handelswaren.

Die Strada Urana

Lange Zeit waren der Monte Piottino und seine Schlucht bei Prato ein Hindernis auf dem Weg nach Süden. Diesen mussten die Säumer auf der Strada Alta oder der Strada Romana (im 14. Jahrhundert durch die Mailänder gebaut) mühsam umgehen. Die tiefe, dunkle Schlucht traute bis anhin niemand zu betreten. Die Urner hingegen wählten den direkten Weg durch dieses unwegsame Gebiet, dem Flusslauf des Ticino folgend. Nach sechs Jahren Bauzeit wurde 1561 die Strada Urana, die Urner Zollstrasse, eröffnet.

Dazio Grande - Strada Urana
Die Kantonsstrasse in der Piottino-Schlucht, welche 1830 auf die Strada Urana von 1561 gebaut wurde (Foto Roman Dörr BAZG)

Der Dazio Grande

Gleichzeitig wurde oberhalb der Piottino-Schlucht der Dazio Grande, der Grosse Urner Zoll, als Tor zum Süden errichtet. Dieses Gebäude war Zollstelle, Pferdewechselstation, Warenlager, Herberge und Gaststätte in einem. Hier mussten die Reisenden Zölle entrichten. Einer davon war der Fusszoll, der Pedaggio, welcher für den Unterhalt der Strasse bestimmt war. «Alle fremden Reisenden mussten 5 Batzen oder 12 französische Sols […] bezahlen», schrieb der Genfer Forscher Horace Bénédict de Saussure 1783. «Die Schweizer und ihre Verbündeten zahlen nur einen Viertel davon.»

Dazio Grande
Stattlich: Der Dazio Grande in Rodi TI oberhalb der Piottino-Schlucht (Foto Roman Dörr BAZG)

Das Zollhaus in alten Reiseberichten

Auf ihren Reisen von oder nach Süden passierten sowohl Säumer und Händler als auch viele andere Leute die Strada Urana und kamen am Urner Zoll vorbei. Wer Geld hatte, stieg ab und erholte sich von den Strapazen der Reise.

Aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sind zahlreiche Berichte über den Dazio erhalten, der offensichtlich einen exzellenten Ruf genoss. «In diesem Zollhaus gibt es ein wirklich gutes Lokal. Dort ass ich zu Mittag», schwärmte Saussure. Die Schriftstellerin Helen Maria Williams wohnte 1794 nach einem Ausritt in die Schlucht sogar dem Erntefest des Hausherrn, dem Landvogt des Zolls, bei: «Wir fanden den Dazio als Heimat der Fröhlichkeit und der Ausgelassenheit vor. […] Als wir in unsere Zimmer gingen, hörten wir festlichen Chorgesang, der aus einigen Kehlen zu erklingen schien, die stimmgewaltiger waren als jene der Bauern. Mit […] Erlaubnis schlossen wir uns der festlichen Schar an und waren nicht wenig amüsiert darüber, wie sich dieser harmonische Kreis zusammensetzte.»

Im Jahr 1797 übernachtete dort auch der französische General Louis Desaix: «Im Dazio legten wir uns sehr müde hin und hatten Mühe, am nächsten Tag wieder aufzuwachen.» Desaix hatte dort zuvor an einem Wettschiessen im Dazio teilgenommen. Dem Sieger winkte eine Prämie von acht Louis d’Or. «Die Teilnehmer waren zahlreich und viele von ihnen schossen perfekt.»

Dazio Grande - 1833 - Suter
Dazio Grande und Zollstrasse um 1833, Aquatinta von Johann Suter (1793–1874)
(Wiki Commons Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung, gemeinfrei)

Zeitenwende

Mit der Gründung des Kantons Tessin endete 1803 die 400-jährige Herrschaft der Eidgenossen südlich des Gotthards. Uri verlor seinen Besitz und trat auch den Dazio Grande ab. Der Tessin erhob nun eigene Zölle und setzte 1818 für das Zollamt Monte Piottino, wie der Dazio nun hiess, eine eigene Zollordnung in Kraft.

1819 baute der Kanton die Strada Urana zur Kantonsstrasse um und machte sie 1830 für Postkutschen befahrbar. Nach der Verlegung des Zolls nach Airolo diente der Dazio bis zur Eröffnung der Gotthardbahn 1882 als Pferdewechselstation. 1934 wurde die Strasse durch eine Galerie geführt. Die Strada Cantonale verfiel. Sie wurde erst Ende der 1980er-Jahre wiederentdeckt und zusammen mit dem Zollhaus renoviert.

Als im Mai 2013 ein Teil der Kantonsstrasse in der Piottinoschlucht abbrach, kam ein Stück der darunter liegenden Urner Strasse von 1561 zum Vorschein. Der Denkmalschutz und das Bundesamt für Strassen (ASTRA) beschlossen den Erhalt der Strada Cantonale sowie die Sichtbarmachung des Originalbelags im oberen Teil der Urner Strasse.

Dazio Grande - Urnerstrasse 1561
Strada Urana: Freigelegter Original-Strassenbelag von 1561 in der Haarnadelkurve (von rechts (noch mit Gras bedeckt) zur Mitte) beim Eingang in die Piottino-Schlucht, links davon der Bogen zur Verbreiterung der Kantonsstrasse (Foto Roman Dörr BAZG)

Heute wird die Schlucht von Wandernden und Schulklassen besucht. Der Lehrpfad Circuito del Piottino erzählt die Geschichte des Zoll- und Transportwesens von einst bis in die jetzige Zeit. Der Rundweg führt auf zwei alten Saumpfaden über den Piottino-Pass zum Dazio Grande. Dieser wird als Restaurant, Hotel, Tagungsort und Museum betrieben. Strasse und Zollhaus stehen als zoll- und verkehrshistorische Wahrzeichen unter Denkmalschutz.

Dazio Grande heute
Der Dazio Grande heute: Restaurant, Hotel, Tagungsort und Museum.
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